Urknall: Anfang allen Seins?

Urknall: Anfang allen Seins?
Urknall: Anfang allen Seins?
 
Von Aristoteles bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war man von der Unwandelbarkeit und damit der Ungeschichtlichkeit des Universums überzeugt. Selbst Albert Einstein, der 1917 die Gravitationstheorie auf die Welt im Großen anwendet, entwirft noch ein statisches Modell, in dem eine endliche Welt von Ewigkeit an existiert und niemals endet.
 
Ab 1912 entdecken die Astronomen Vesto M. Slipher und Francis G. Pease, dass das Licht von fernen Galaxien beträchtliche Wellenlängenänderungen gegenüber irdischen Experimenten aufweist. Harlow Shapley und auch Carl Wirtz deuten diese Rotverschiebung als Bewegungseffekt und als Hinweis, dass die meisten Galaxien sich von uns entfernen. 1929 zeigt Edwin P. Hubble, dass das Universum sich homogen und isotrop, also räumlich gleichförmig und ohne Bevorzugung einer Richtung, ausdehnt. Weitere Hinweise für die kosmische Expansion kommen ab 1922 von der Theorie her, als Alexander Friedmann und Georges Lemaître strenge kosmologische Lösungen von Einsteins Feldgleichungen der Gravitation finden, die eine dynamische Welt beschreiben. In diesen Modellen taucht als begriffliche Neuerung auch ein endliches Alter des Universums auf. Wenn wir gedanklich die Expansionsbewegung in die Vergangenheit zurückverfolgen, gelangen wir zu einem Punkt, an dem alle Galaxien einen verschwindenden Abstand hatten: zum »Big Bang« oder »Urknall«. Friedmann nennt, kühn und ohne theologische Bedenken, die Zeit, die von jenem Augenblick an verstrichen ist, als der Raum ein Punkt war, die »Zeit seit der Erschaffung der Welt«. Spätere Untersuchungen zeigten, dass dieser absolute Nullpunkt der Zeit, die Anfangssingularität, einen Rand der Raum-Zeit darstellt, über den hinaus die Weltlinien der Galaxien nicht weiter in die Vergangenheit fortsetzbar sind.
 
 Expandiert das Universum?
 
Um immer genauer die exakte Form der Expansion des Universums zu beschreiben, versucht man die gegenwärtigen Werte des Hubble-Parameters Ho und des Bremsparameters qo zu bestimmen. Ho liefert die Geschwindigkeit der Expansion, und qo besagt, wie stark die Anziehungskraft der kosmischen Materie ihre Fluchtbewegung vermindert. In Einsteins Gravitationstheorie ist die Geometrie des Raums eng mit der Materiedichte des Weltalls verbunden. Die Theorie lässt dabei - vereinfacht - drei Möglichkeiten zu: Wenn die mittlere Dichte des Universums unterhalb eines kritischen Werts liegt, expandiert es in alle Ewigkeit weiter; ist sie ihm gleich, kommt die Expansionsbewegung in unendlicher Zeit zum Erliegen; überschreitet die Dichte den Wert, so verwandelt sich die Expansionsbewegung nach endlicher Zeit in eine Kontraktionsbewegung, bei der sich das Universum in einem Endknall selbst vernichtet.
 
Die Bestimmung der beiden kosmologischen Parameter Ho und qo gestaltet sich äußerst schwierig, da dazu Messungen an Objekten in sehr großen Distanzen notwendig sind, die wegen der langen Laufzeit des Lichts in einem viel früheren Moment der kosmischen Zeit gesehen werden. Es ist nicht leicht abzuschätzen, wie die kosmische Entwicklung unterdessen die Leuchtkraft dieser fernen Quellen beeinflusst hat. Die besten Entfernungsindikatoren sind die Cepheiden, pulsierende Riesensterne, deren Distanz sich bis auf 5 % genau bestimmen lässt. Was den Bremsparameter qo anbelangt, so zeigen die gegenwärtigen Beobachtungen, dass wir offensichtlich in einem unterkritischen Universum leben, das ewig weiter expandiert und in dem der Raum unendliche Erstreckung hat. Diese Annahme könnte allerdings schnell hinfällig werden, wenn sich die jüngst von der japanischen Super-Kamiokande-Kollaboration gefundenen Indizien dafür verstärkten, dass das bislang als masselos geltende Neutrino eine Masse besitzt.
 
 Was war am Anfang?
 
Die entscheidende Stütze für das Urknall-Modell wurde 1965 durch Arno A. Penzias und Robert W. Wilson gefunden. George Gamow hatte zwar schon 1946 vorausgesagt, dass ein expandierendes Universum eine beobachtbare Reliktstrahlung hinterlassen haben müsste, aber erst durch die Zufallsentdeckung der beiden Physiker der Bell Telephone Company wurde diese kosmische Hintergrundstrahlung gefunden. Es handelt sich bei ihr um das »Nachglühen« des Feuerballs aus jener Entwicklungsphase des Universums, als sich bei einer Temperatur von etwa 4000 Kelvin Protonen und Elektronen zu neutralem Wasserstoff vereinigten. Von da an konnten Photonen ungehindert an der Expansion teilnehmen und sich so bis auf ihre heutige Temperatur von 3 K, also fast auf den absoluten Nullpunkt, abkühlen.
 
Seit 1990 wird die Hintergrundstrahlung, die wegen der absorbierenden Erdatmosphäre nur im Weltraum zu beobachten ist, durch den Satelliten COBE (Cosmic Background Explorer) vermessen. Anfangs wurden keine Irregularitäten entdeckt. Damit tauchte das Rätsel auf, wie es je zur Ausbildung von endlich ausgedehnter, strukturierter Materie kommen konnte; denn irgendwelche Keime für die spätere galaktische Entwicklung mussten vorhanden sein. Erst im April 1992 gelang es wirklich, Temperaturschwankungen in der Größenordnung von 1 : 100 000 zu finden, womit der Einklang des Urknall-Modells mit dem Prozess der Galaxien-Entstehung hergestellt war. Zu den erstaunlichsten Zügen dieses »heißen« Urknall-Modells gehört es, dass wir daraus die gesamte Geschichte unserer heutigen Materiezusammensetzung des Universums ableiten können. Dabei arbeiten Astrophysik und Hochenergiephysik in einer bemerkenswerten Kooperation zusammen.
 
Heute geht man für das sehr frühe Universum von einer Abfolge von Epochen aus, die durch die theoretischen Ideen der Vereinheitlichung aller physikalischen Kräfte bestimmt ist. Die Grenze der theoretischen Spekulation ist bei 10-43 Sekunden nach dem Nullpunkt der Zeit erreicht, als die Temperatur des Universums bei 1032 K lag; der Zustand davor lässt sich mit den gegenwärtigen Theorien noch nicht verstehen. Erst nach dieser Planckära, während der, wie man vermutet, alle Kräfte eine Einheit bildeten, lassen sich physikalische Aussagen vertreten. Relativ konkrete Angaben kann man ab 10-6 s machen: Die Materie besteht aus einem Plasma von Quarks und Leptonen, welches bei einer Temperatur von 1012 K im Gleichgewicht mit den Photonen der elektromagnetischen Strahlung steht. In der Zeit zwischen 10-6 s und 10-3 s kondensieren mit der Abkühlung durch die Expansion des Universums die Quarks zu Protonen und Neutronen, welche nun in dieser Hadronenära das Geschehen zusammen mit der starken Wechselwirkung bestimmen. Bei sinkender Temperatur wiederholt sich dieser Vorgang mehrfach in gleicher Weise: Immer wieder frieren Teilchenklassen aus, und es entkoppeln sich die Kräfte, weil die mittlere Energie des Universums durch die Expansion laufend abnimmt. Nach 1 s vernichten sich größtenteils Elektronen und Positronen, die Neutrinos machen sich selbstständig, und die schwache Wechselwirkung entkoppelt sich vom Geschehen. Nach vier Minuten bilden sich die leichten Elemente, und nach 100 000 Jahren trennt sich die Strahlung von der Materie - das Universum wird elektrisch neutral und durchsichtig. Die Häufigkeitsverteilung der leichten Elemente, die aus diesem Entwicklungsvorgang abgeleitet wird und sehr gut zu den Beobachtungen passt, deutet darauf hin, dass die Vorstellungen des Standard-Urknall-Modells zumindest bis zu dieser Epoche realistisch sind.
 
Doch auch das heiße Urknall-Modell lässt noch Fragen offen; Änderungen werden voraussichtlich die sehr frühen Phasen betreffen. So baut man beispielsweise, um gewisse »zufällige« Züge wie die Homogenität und die fein abgestimmte Expansionsbewegung, notwendige Voraussetzungen für die Existenz von Leben, erklären zu können, eine inflationäre Phase bei 10-35 s ein, in der sich das Universum besonders schnell ausdehnte. Einige Theoretiker bemühen sich auch, die rätselhafte Anfangssingularität zu umgehen, indem sie die Quantennatur der Materie heranziehen. So haben Wolfgang Priester und Hans Joachim Blome vorgeschlagen, den Urknall durch einen »Big Bounce«, eine Art Umschwung, zu ersetzen, womit eine alte Forderung der Naturphilosophie erfüllt wäre, der gemäß aus Nichts niemals etwas entstehen und etwas Seiendes niemals absolut verschwinden kann.
 
Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider

Universal-Lexikon. 2012.

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